Sommerinterview: Merz spielt gescheiterte Richterwahl herunter und spricht von „Verschwörungstheorien“

Nicht einmal hundert Tage ist Bundeskanzler Friedrich Merz im Amt – und schon jetzt geht es steil bergab. „Kanzler in der Krise“ oder „Ampel 2.0“ titeln Zeitungen an diesem Wochenende. Im ARD-Sommerinterview will Merz davon nichts wissen: „Es ist keine Krise. Die Demokratie in Deutschland lebt.“ Eine gescheiterte Richterwahl, Kritik aus den eigenen Reihen und der Vorwurf, Merz sei ein Außenkanzler, der sich kaum um sein eigenes Land kümmert – alles halb so wild.
Denn Friedrich Merz ist nicht nur mit „Selbstbewusstsein gestartet“, wie ARD-Moderator Markus Preiß zu Beginn des Interviews sagt. Die Kritik an seiner Person scheint auch weiterhin abzuperlen. Er gibt sich demonstrativ ruhig für einen Kanzler dessen Führungsstil plötzlich infrage steht. „Das ist kein Beinbruch“, kommentiert der Kanzler die missglückte Richterwahl. Dass nicht einmal seine eigene Koalition zu ihm gehalten und seinem Aufruf, die umstrittene Kandidatin Frauke Borsius-Gersdorf zu wählen, gefolgt ist, lässt der Kanzler unter den Tisch fallen.
Die öffentliche Aufregung? Aus der Sicht des Kanzlers übertrieben.„Man kann Abgeordneten keine Befehle von oben geben“, sagt Merz. Eine solche Wahl sei eine „Gewissensentscheidung“, und dabei werde es auch bleiben. Und wie wird es nach der Sommerpause weitergehen? Der Kanzler bleibt vage. „Wir werden das besprechen.“ In den kommenden zehn Minuten wiederholt der Moderator seine Frage und Merz wiederholt seine Antwort. Ein hin und her ohne inhaltlich Stellung zu beziehen.
Für ihn ist das alles halb so wild. Die öffentliche Aufregung? Aus seiner Sicht übertrieben. „Das Ganze ist undramatisch“, sagt der Kanzler. Die meisten Menschen würden das Geschehen ohnehin nur am Rand verfolgen. Das Thema Richterwahl interessiere die breite Bevölkerung kaum. In den sozialen Medien sei ohnehin viel Unsinn unterwegs, von „Verschwörungstheorien“ ist die Rede.
Ja, die ganze Sache sei unglücklich verlaufen, aber so sehe „die politische Normalität“ heutzutage eben aus: „Ich prophezeie Ihnen, Herr Preiß, dass es schwierig bleiben wird.“ An Fraktionschef Jens Spahn, der laut seiner dem vielen Kritikern die Schuld am Richterwahlschlamassel trägt, will Merz festhalten. „Ist Jens Spahn der richtige Mann?“, fragt Preiß. Merz antwortet ohne zu zögern: „Eindeutig ja.“
Aber es lässt sich eben nicht alles nüchtern wegmoderieren. Ein Zitat von Peter Müller, ehemaliger Verfassungsrichter und Parteikollege, wird eingeblendet. Dieser sprach nach dem Richterwahldebakel von einem „eklatanten Führungsversagen“ der Union. Merz weicht erneut aus. Statt Führungsdebatten zählt er lieber Erfolge. Die Koalition arbeite schnell und effektiv, die Zusammenarbeit mit SPD-Chef Lars Klingbeil verlaufe einwandfrei. Dennoch muss der Kanzler sich eingestehen: „Das ist keine Liebesheirat. Das ist eine Arbeitskoalition.“
Merz 2024: Öffentlicher Streit sei „Gift“ für jede ZusammenarbeitEin Jahr zuvor, im Juli 2024, war Friedrich Merz noch als Oppositionsführer beim Sommerinterview zu Gast. Schon damals fragte Markus Preiß, wie ein künftiger Kanzler Merz mit der zunehmenden Zersplitterung des Parteiensystems umgehen würde. Merz zeigte sich entschlossen: Er wolle nur einen Koalitionspartner und setze auf „Kompromissbereitschaft“, „Führung“ und eine Regierung, die ihre Konflikte hinter verschlossenen Türen austrägt.
Öffentlicher Streit, so Merz 2024, sei „Gift“ für jede Zusammenarbeit. „Wenn so ein Gift des Misstrauens einmal in einer Gruppe ist, dann kommt man da nicht mehr raus.“ Mit diesen Aussagen wird der heutige Kanzler ein Jahr später nicht konfrontiert.
Nachdem Preiß die Hälfte des Sommerinterviews für Fragen zur Richterwahl verbraucht hatte, ist noch Zeit für die AfD. Er will wissen, ob die Union der Alternative für Deutschland „auf dem Leim“ geht. „Von dieser AfD machen wir uns nicht abhängig.“ Merz fügt hinzu: „Das heißt nicht, dass man im Parlament mal mit der einen, mal mit der anderen Seite abstimmt.“ also auch Abstimmung mit der AfD, wie im Februar? Was das konkret bedeutet, lässt der Kanzler offen und Preiß fragt nicht nach.
Berliner-zeitung